Reto Pulfer
TAGETES UND NACHTKERZE
11. Dezember 2022 – 05. März 2023
An diesem Tag ging sie früh hinaus, so dass es nur goldglänzende Umrisse gab, und der Rest, von der Sonne abgeschirmt, in einem freundlichen, intimen und schlafenden Violett bläute. Es war das Blau des Schlafes, des Halbunsichtbaren, des verschlafenen Dichters, des Halbtoten, des einschlafenden Nebelbildes, das Blau des sich räkelnden Wesens in der Metamorphose, das Blau der Liebe eines tiefen Ozeans.
Lebte die Wüste, obwohl sie es ihr nicht ansah?[1]
Betritt man den historischen Kornspeicher von Gut Kerkow durch die große Luke, so eröffnet sich eine vollkommen neue Räumlichkeit: Reto Pulfer hat wiederverwendete und pflanzengefärbte, bestickte und gestrickte Stoffe zeltartig aufgespannt und mit organischen Materialien, Holzskulpturen und selbstgebauten Instrumenten zu einer immersiven Landschaft angereichert, die alle Sinne anspricht, die für sich einnimmt und involviert. Im Durchschreiten lassen sich ihre visuellen Details, aber auch Gerüche und Klänge entdecken – bis man unversehens selbst ein Teil des Ganzen geworden ist!
Reto Pulfer, der international nicht nur als bildender Künstler, sondern auch als Autor und Musiker in Erscheinung tritt, arbeitet mit dem, was schon da ist und was ihn in seinem Alltag umgibt. Auf eine spielerische, oft intuitive Weise schafft er für seine Ausstellungen ortsspezifische Umgebungen aus bearbeiteten Textilien, skulpturalen, zeichnerischen und malerischen Arbeiten, gefundenen Gegenständen und Textfragmenten, die er „Zustände“ nennt. In diese
„Zustände“ kann sich das Publikum hineinbegeben, um sie mit allen Sinnen zu erfahren. Was den Künstler beschäftigt, erschließt sich dabei häufig auf eine gleichermaßen persönliche wie poetische Weise.
2018 zog Reto Pulfer mit seiner Familie in die Uckermark. Hier legte er einen eigenen Künstlergarten an, in dem er mit Wild- und Kulturpflanzen, mit Symmetrie und Asymmetrie des Gartenbaus experimentiert. Es ist der Ort, an dem er Pflanzen, Insekten und Tiere beobachtet und die Eigenzeiten der Natur verstärkt wahrnimmt.
Schon in seinem früheren Schaffen bildete das Verhältnis des Menschen zur Natur und zum Kosmos einen Schwerpunkt der künstlerischen und poetischen Auseinandersetzung. Doch erst durch das Leben im uckermärkischen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und durch die direkte Nähe zu Initiativen der ökologischen Landwirtschaft kann Pulfer wortwörtlich aus seinem Garten heraus arbeiten. Seine Experimente und Beobachtungen, aber auch die Pflanzen selbst, die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, ihren biologischen und ästhetischen Eigenheiten und Möglichkeiten, all das fließt nun direkt in sein Werk ein.
Einige der hier gezeigten wiederverwendeten Stoffe sind mit Pflanzen aus dem eigenen Garten gefärbt und nach deren Vorbild bestickt. Die gestrickten Textilien sind nach Entwürfen des Künstlers gefertigt und nehmen in Bildern, aber auch in tagebuchartigen Texten auf das Leben im Garten und auf Pulfers Brennnessel-Science-Fiction-Roman Gina Bezug. Sie zeigen Ornamente und Muster, die sich aus Regenwürmern und Gartenwerkzeug, aus stilisierten Blättern und Blüten zusammensetzen. Dabei verweisen sie nicht allein auf Pulfers Auseinandersetzung mit allen Bestandteilen und Ebenen des eigenen Gartens, sondern zeugen in ihrem Einsatz kombinatorischer Verfahren mittels Spiegelung und Rotation auch von seiner Beschäftigung mit komplexen Fragen der Geometrie. Darüber hinaus sind getrocknete Pflanzen, gefundene Hölzer und andere Naturmaterialien ebenso Teil der Installation wie das begehbare Gartenhäuschen, das mit traditionellen verzapften Holzverbindungen und wiederverwendeten Tonziegeln gebaut ist. Komplementiert wird dieser nur temporär existierende, von der Landschaft der Uckermark, deren Hügeln, Wäldern und Seen inspirierte und singulär für Gut Kerkow geschaffene „Zustand“ durch die aus Holz und Saiten selbstgebauten Instrumente, die dem Raum einen eigenen Klang verleihen und dazu einladen, gespielt zu werden.
Wenn man sich durch die Ausstellung bewegt und auch die Spiegelsymmetrie des historischen Kornspeichers berücksichtigt, dann kann man verschiedene Gegensätze und Spannungsverhältnisse erkennen; etwa zwischen fragilen und ausbalancierten, symmetrischen und asymmetrischen Elementen. Weist Pulfers Zugang zur Natur zuweilen einen systematischen Charakter auf, so zeigt er sich an anderer Stelle verlebendigend; mal erscheint er kontrolliert, mal intuitiv. Dass immer beide Seiten in ihrem Wechselspiel zueinander berücksichtigt werden sollen, darauf verweist auch der Titel der Ausstellung „Tagetes und Nachtkerze“. Dieser rückt mit den beiden titelgebenden Pflanzen zum einen deren jeweilige Gestalt und Verwendung als essbare und heilende Wild- und Kulturpflanzen in den Fokus. Während die Ziertagetes so manchen Vorgarten in Kerkow bewächst, handelt es sich bei der kleinblütigen Tagetes um eine mexikanische Gewürz- und Heilpflanze. Die Nachtkerze wiederum begegnet als eine lang blühende Wildpflanze, die sich als Unkraut festsetzt oder als Zierpflanze, die einen intensiven buttrigen Duft verströmt. Neben diesem wortwörtlichen Verweis erweckt der Ausstellungstitel „Tagetes und Nachtkerze“ zum anderen aber auch die Assoziation an das Wechselspiel von Tag und Nacht.
Text: Rahel Schrohe
[1] Reto Pulfer: Gina. Ein zuständiger Roman, Berlin: Bom Dia Boa Tarde Boa Noite, 2020, S. 52.