ALEXEJ MESCHTSCHANOW

Alexej Meschtschanow
OHNE ZUCKER

06. Juli – 12. Dezember 2020

 

Wir freuen uns, gemeinsam mit PSM und diesmal auch in Zusammenarbeit mit Klemm’s Berlin, die Ausstellung Ohne Zucker von Alexej Meschtschanow für Spaced Out auf Gut Kerkow in der Uckermark zu präsentieren. Der Künstler bespielt verschiedene Bereiche des Gutshofs und zeigt neben einigen für diesen Ort ausgewählten Skulpturen auch zwei neue, orts- bzw. raumspezifische Installationen.

Im Zentrum von Meschtschanows Oeuvre steht eine kritische Auseinandersetzung – vielleicht könnte man es auch Hassliebe nennen – mit dem Design der Moderne, insbesondere mit dem Verhältnis von Form und Funktion, Stütze und Skulptur. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen eine Reihe von Stühlen von Biedermeier bis Bauhaus – beziehungsweise Nachbauten der Klassiker – die der Künstler sammelt und einer „Reparatur“ unterzieht, indem er sie durch ein metallenes Gestell wie in einem Korsett verschraubt.

Beim ersten Stuhl 1A (2004), einem Bugholzstuhl mit Geflecht, war es vielleicht wirklich noch ein Bein, das gebrochen war und durch eine Prothese geschient werden musste – auch wenn die Bohrungen das Holz noch mehr zerstören und er von sich aus nie mehr stehen könnte. Die schweren Ständer aus weiß lackiertem Stahlrohr, die das elegant gebogene Stahlrohrgestell verschiedener Variationen des berühmten Freischwingers des Bauhaus-Dozenten Mart Stam einklammern und dabei einige Zentimeter vom Boden abheben, führen dessen Funktion ad absurdum: Der Stuhl ist zwar noch besitzbar, doch er schwingt nicht mehr – Operation gelungen, Patient tot. Gleichzeitig wirft das hybride Objekt Fragen nach dem Verhältnis von Skulptur und Sockel auf, nach Support oder Sabotage. Der Stuhl an sich als das skulpturalste und dem menschlichen Körper und seinen Bedürfnissen als Negativform am engsten angepasste Möbelstück, erfährt durch das gewaltsam aufgepfropfte, seine Form imitierende doch gleichzeitig dominante Gerüst eine fast schmerzhafte Mutation, die Assoziationen an Folterinstrumente weckt: an Daumenschrauben etwa oder den elektrischen Stuhl.

 

Für die Arbeit Bopparder Kanapee (2005), die im Salon zu sehen ist, hat Meschtschanow zwölf unterschiedliche hölzerne Polsterstühle in zwei Reihen zu jeweils sechs gegenübergestellt – eine Anordnung wie beim berühmten Abendmahl, nur dass die Tafel in der Mitte fehlt und die Stühle durch eine gigantische Konstruktion aus weiß lackiertem Stahlrohr wie durch Fußfesseln aneinandergeschraubt sind. Gleichzeitig lässt ein Überbau aus einer Längsstange und jeweils zwei Griffen an den Enden sowohl an einen Wagon denken wie auch an Krankenhausbetten – nur lässt sich die Konstruktion nicht schieben, denn die Stühle „stehen“ tatsächlich noch auf ihren Beinen. Der Name kommt von dem Ort Boppard am Rhein, wo Michael Thonet seine Holzwerkstatt hatte und ein Verfahren entwickelte, Holz über Wasserdampf zu biegen und seine ersten Bugholzstühle herstellte, bevor er nach Wien übersiedelte und das Verfahren verfeinerte. Die im Bopparder Kanapee verwendeten Stühle gehören der frühen Periode an – „Biegen oder Brechen“ lautete das Firmenmotto. Die Bugholzmethode wurde später von Eero Saarinen und Ray und Charles Eames mit verleimtem Schichtholz weiterentwickelt – nicht nur für Stühle wie den berühmten luxuriösen Eames Lounge Chair: Während des 2. Weltkriegs fertigten die Eames einen Prototyp für eine Beinschiene (leg splint), die 1942 in Serie ging und von der 5.000 Exemplare für kriegsverletzte Navy Soldaten gefertigt wurden. Doch das nur am Rande.

Das Prinzip der Schiene, Stütze oder Prothese bot sich für Alexej Meschtschanow auch an beim Anblick dreier schief gewachsener Bäume auf Gut Kerkow, von denen insbesondere einer dringend eines tragenden Supports, eines zusätzlichen Standbeins bedurfte. Dieses wurde aufgrund von Zeichnungen und Modellen angefertigt und dem Baum angepasst – wie viele von Meschtschanows Behelfsskulpturen erwecken die einzelnen Elemente auf den ersten Blick den Eindruck industrieller Readymades, tatsächlich aber folgen Form, Material und Farbgebung jeweils einem präzisen künstlerischen Entwurf. Die technokratische Baumprothese oder -krücke, die gewaltsam in dessen Stamm eindringt, wird mit der Zeit wiederum von der lebendigen Materie einverleibt werden – irgendwann werden beide zu einer Einheit verwachsen sein, eine symbiotische Co-Existenz aus Holz und Stahlrohr (wie beim Freischwinger), Natur und Zivilisation (wie auf Gut Kerkow).

Im alten Kornspeicher des Gutshofs hat Meschtschanow eine weitere raumbezogene Intervention platziert. Schräg über das hölzerne Gebälk spannt sich ein zwölf Meter langer „Regenbogen“ aus 14 verschiedenfarbigen, ineinander verschraubten schweren Metallprofilen. Zwar ist es genau genommen kein Bogen, sondern eher eine straighte Linie, doch spiegeln zumindest die Farben das Spektrum des Regenbogens – jedenfalls zur Hälfte. Auch hier wird wieder das natürliche, organische gegen das künstliche, industrielle Material ausgespielt – die stählernen Profile (Stahlträger) liegen als Ballast auf den Dachbalken auf, welche bereits das Gebäude zu tragen haben. Der glücksverheißende aber stets unerreichbare Fuß des Regenbogens hängt hier wörtlich in der Luft, scheint aber Verbindung zum Boden aufnehmen zu wollen.

Darunter bewegen sich zwei weitere Skulpturen scheinbar diametral voneinander weg. Dämonen benutzen geschlossene Türen ist der Titel einer Arbeit von 2008. Spinnenartige, achtfüßig gebogene Metallelemente scheinen ein asymmetrisch geschnittenes und in Metall gerahmtes Türelement davonzutragen, wie Ameisen ein großes Blatt – oder sind es die Dämonen, die sich durch die geschlossene Tür bewegen? Der Skulptur haftet tatsächlich etwas surreal Unheimliches an, als handle es sich um einen nächtlichen Spuk. Ähnlich absurd mutet die Arbeit Futura (2017) an: Ein Modell des einfachen klassischen Freischwingers, von seinen eingangs beschriebenen „Fußfesseln“ getragen, wurde noch zusätzlich auf eine Art Fahrgestell-Unterbau aus doppelt gekreuzten Vierkant-Metallrohren geschraubt, an dem vier orangefarbene Räder verschraubt sind. Doch auch hier handelt es sich um eine Attrappe, denn die Räder können sich nicht drehen. Die Funktion des Rads wird hier ähnlich sabotiert wie Duchamps berühmtes, auf einen Küchenhocker montiertes Fahrradrad. Die Duchamp‘sche Faszination mit Industriedesign, die zu einem zentralen Aspekt zeitgenössischer Kunstproduktion gewordene Invention des (modifizierten) Readymade werden von Meschtschanow weitergedacht und intervenieren auf unterschiedliche Weise die örtlichen Begebenheiten auf Gut Kerkow.

Ohne Zucker, der Titel der Ausstellung, bezieht sich auf Formulierungen, die oft in Zusammenhang mit der Genesung einzelner Individuen und der gesamten Gesellschaft stehen. Verkörpert Zucker einerseits das Lustprinzip, ist ein Zuviel davon meist schädlich. Letztendlich geht es in der Ausstellung auch um Kontrolle, Dominanz, um kontrollierte Symbiose. So wie Michael Thonet Holz künstlich verbog um paradoxerweise eine möglichst organische Form zu erzielen, die das Stahlrohr dann wieder an Funktionalität überbot, so greift Meschtschanow mit Stahl in den gewachsenen Stamm des Baumes ein und erinnert daran, dass Stütze immer auch Kontrolle ist, dass Kultur und Natur aber auch durchaus kompatibel sind.

Text: Eva Scharrer


Über Alexej Meschtschanow

Alexej Meschtschanow (b. 1973) lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte an der HGB Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wo er 2005 seinen Meisterschüler absolvierte. Seine Arbeiten waren in letzter Zeit in folgenden Ausstellungen zu sehen: Bauhaus Sachsen, Grassi Museum für Angewandte Kunst, Leipzig, DE (2019); Spuren im Raum, Bundeskunsthalle, Bonn, DE (2018); Europa verlassen, mit Jana Müller und Felicitas Hoppe, Kunstverein Langenhagen, Langenhagen, DE (2017); Formen in der Dämmerung, Kunsthalle m3, Berlin, DE (2016); non profit / nutzlose Nutzbarkeiten jenseits von Nutzen, Kunstverein Friedrichshafen & Zeppelin Museum, Friedrichshafen, DE (2015); Liebe, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen, DE (2014) und six memos for the next …, Magazin4 – Bregenzer Kunstverein, Bregenz, AUT (2013). Alexej Meschtschanow ist Stipendiat des Kunstfond Bonn 2020, davor war er 2012 Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles und erhielt im Jahr 2009 ein Arbeitsstipendium des Else-Heiliger-Fonds und der Konrad-Adenauer-Stiftung.